Welche Kompetenzen brauchen Pflegende, um Menschen mit Behinderung gut zu pflegen?

Zusammenfassung des Referats von Evelyn Huber am Age Plus-Symposium «Das Gegenüber im Blick – individuell und situativ. Menschen mit Behinderung im Alter: Zugänge im Gesundheitswesen» am 11.06.2024

Von Dr. Evelyn Huber, Pflegewissenschaftlerin, Dozentin Institut für Pflege, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW

Welche Kompetenzen brauchen Pflegende, um Menschen mit Behinderung gut zu pflegen?

Der Begriff «Pflegende», wie er im Titel aufgeführt ist, ist in der Schweiz zwar gebräuchlich, aber problematisch. In diesem Begriff zeigt sich ein Problem, wenn es um Kompetenzen geht. Man weiss nicht, um wen es geht, wenn man Pflegende sagt und welche Kompetenzen hinter einer Person stehen, die Pflegende genannt wird oder sich Pflegende nennt.

Pflegende sind wir alle immer wieder in der einen oder anderen Form, zum Beispiel, wenn unsere Liebsten krank sind. Das muss nicht immer anpackend sein, wie wenn man einen bettlägerigen Patienten oder eine Patientin im Bett dreht, damit er oder sie nicht wund liegt. Pflege im Sinne vom englischen Care, im Sinne von Dasein und für jemanden sorgen und einstehen, wenn es um Fragen zu Gesundheit und Krankheit geht, ist auch Pflegen. In der Schweiz haben wir zudem ein durchlässiges, aber kompliziertes Ausbildungssystem, wodurch Personen mit ganz unterschiedlichen Ausbildungen wie auch solche ohne Ausbildung in der Pflege arbeiten.

 

Benötigte Kompetenzen

Am Beispiel eines hospitalisierten Patienten mit einer akuten, lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankung und langjähriger psychischer Behinderung können einige Kompetenzen aufgezeigt werden, die diplomierte Pflegefachpersonen für eine umfassende Pflege in komplexen Situationen benötigen:

  • Diplomierte Pflegefachpersonen benötigen Wissen und Erfahrung zu den Auswirkungen und Behandlungen verschiedener Erkrankungen und Behinderungen, um Menschen angemessen unterstützen zu können, z.B. um Symptome wie Schmerzen oder Risiken wie Sturzgefahr einschätzen und die Pflege darauf abzustimmen zu können, auch wenn ein Mensch nicht selbst Auskunft geben kann. 
  • Sie brauchen Kommunikationsfähigkeiten, um mit den Betroffenen, ihren Familien und den verschiedenen beteiligten Fachpersonen im Gespräch zu sein, gemeinsam Lösungen zu suchen und auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten.
  • Sie brauchen Einfühlungsvermögen, gerade wenn Menschen Mühe haben oder nicht in der Lage sind, ihre Anliegen selbst zu äussern.
  • Sie müssen Prioritäten setzen können, wann ihre Aufmerksamkeit wo gefordert ist, um keine Verschlechterungen oder Risiken zu verpassen.

Als Rahmen für die professionelle Pflege wurden seit über 100 Jahren Theorien und Modelle entwickelt. Ein jüngeres Beispiel ist das «Fundamentals of Care Framework» von Kitson et al. (2013). Für die Schweiz wurde im Jahr 2006 im Rahmen eines Forschungsprojekts eine Definition professioneller Pflege von Spichiger et al. (2006) entwickelt.

 

Ausbildungen

Ein Blick auf die schweizerische Bildungssystematik zeigt die verschiedenen Ebenen von Ausbildungen und Karrieremöglichkeiten. In Bezug auf die Pflege gibt es auf der Sekundarstufe II die zweijährige Ausbildung «Assistent / Assistentin Gesundheit und Soziales» und die dreijährige Ausbildung «Fachfrau / Fachmann Gesundheit FaGe». Auf der Tertiärstufe gibt es als höhere Berufsausbildung den Abschluss «Diplomierte Pflegefachfrau / Diplomierter Pflegefachmann HF» und auf Hochschulebene die Abschlüsse «Bachelor of Science in Pflege», «Master of Science in Pflege» und Doktoratsprogramme. Zu all diesen Abschlüssen gibt es verschiedene Weiterbildungsmöglichkeiten.

 

Pflegequalität: Anforderungen und Zusammenarbeit

Die Kompetenzen sind unterschiedlich je nach dem, auf welchem Niveau Pflegende ausgebildet sind. Für FaGe ist beispielsweise definiert, dass sie Notfallsituationen erkennen und erste Hilfe leisten sollen. Eine Pflegefachperson mit Bachelorabschluss soll Komplikationen vorbeugen, sie rechtzeitig erkennen, geeignete Massnahmen einleiten und in Notfallsituationen lebenserhaltende Massnahmen ergreifen. Das ist viel umfassender.

In der Praxis arbeiten Pflegende mit verschiedenen Bildungsabschlüssen zusammen. Es erfordert sehr gute Leitungspersonen und gute Zusammenarbeit in Pflegeteams, dass die Kompetenzen der unterschiedlich ausgebildeten Pflegenden optimal zusammenspielen und genutzt werden. Dies gelingt aus verschiedenen Gründen nicht immer gleich gut. Beispielsweise ist die Zusammenarbeit viel schwieriger, wenn Pflegeteams durch Temporärpersonal unterstützt werden. Für Patientinnen, Patienten und ihre Familien ist verständlicherweise nicht nachvollziehbar, welche Pflegenden, mit denen sie zu tun haben, welche Kompetenzen haben. Das kann zu schwierigen Situationen führen.

Aus vielen internationalen Studien geht hervor, dass zwei Aspekte für eine gute Pflegequalität entscheidend sind:

  • die Anzahl Pflegender im Verhältnis zur Anzahl Patientinnen und Patienten. 
  • der Anteil an Pflegefachpersonen HF / FH in Pflegeteams zum Anteil Pflegender mit Ausbildung auf Sekundärstufe II oder ohne Ausbildung.

In Bezug auf die Pflege von älteren Menschen mit langjährigen Behinderungen scheinen mir einige Ansprüche an eine gute Pflege besonders zentral, die den Bedarf an Pflegefachpersonen mit erweiterten Kompetenzen hervorheben. Leider fehlt bisher eine entsprechende Spezialisierung in der Schweiz.

  • Es braucht eine gute Kommunikation, Koordination und Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheits- und Sozialwesen, da viele Menschen mit Behinderungen mit Fachpersonen aus beiden Bereichen in Kontakt kommen.
  • Es braucht Generalisten- und Spezialistenwissen, da oft Gesundheitsprobleme allgemein, in Bezug auf das Alter und in Zusammenhang mit der Behinderung gleichzeitig auftreten und sich gegenseitig beeinflussen.
  • Es braucht die Fähigkeit, sich neues Wissen anzueignen, beispielsweise bei Behinderungen aufgrund seltener Erkrankungen.
  • Es braucht massgeschneiderte Unterstützung in den Bereichen Gesundheitsförderung und Prävention, da Bewegungs- und Ernährungsempfehlungen oft an die Möglichkeiten der Betroffenen angepasst werden müssen.
  • Es braucht zusammen mit den Betroffenen, ihren Familien und anderen Fachpersonen eine gute Abstimmung, um eine Balance zwischen Unters- und Überversorgung zu finden und die Gesundheit der Familien als Ganzes zu schützen und fördern.
  • Es braucht aufmerksame und empathische Begleitung insbesondere bei einschneidenden Übergängen, z.B. wenn mehr Pflege nötig wird oder am Lebensende, um Leiden zu lindern und dem Autonomieanspruch in jeder Situation nachzukommen.

Am Beispiel des anfangs erwähnten Patienten und weiterer Pflegesituationen, die ich im Rahmen meiner Dissertation untersuchte, wurde ersichtlich, dass die zuständigen Pflegefachpersonen ihre Aufmerksamkeit jeweils gezielt auf mögliche oder tatsächliche Probleme und Risiken der Patientinnen, Patienten und ihren Familien lenkten und ihr Fachwissen, ihre Erfahrung und ihre Zuwendung sehr bewusst nutzten, um sie bestmöglich in ihren Fähigkeiten zu stärken und ihr Leiden zu lindern.

Ansprechperson

Evelyn
Huber